Was ist hinter der Sonne, Plato?

Kerstin Kraus

 

Kerstin Kraus participated in the Socrates Project course “Bildung, Befreiung, Öffentlichkeit” in spring 2022. It is a course in philosophy and literature that was instructed in German language. Kerstin Kraus wrote the text as a written assignment for the course. It discusses Plato’s cave allegory and the idea of absolute truth. She concludes with the sentence: “The allegory of the cave ends in a dangerous place: Where questions burn up in supposed enlightenment and a belief arises that is portrayed as knowledge.”

 

Das Höhlengleichnis beschreibt, wie gefesselte Menschen in ihrer Scheinwelt gefangen sind. Die Wahrheit kann sich nur denen offenbaren, die bereit sind, sich aus ihren Fesseln zu lösen und raus aus der Höhle, den Weg der Erkenntnis zu gehen.

Plato illustriert die räumliche Anordnung einer Höhle: In die Höhle führt ein Weg. Im vorderen Bereich des Höhleninneren, auf einer Erhöhung, leuchtet ein Feuer. Vor dem Feuer, auf dem Weg, vor einem Mauervorsprung, befindet sich eine Gruppe Menschen. Sie halten Stöcke in der Hand, die über den Mauervorsprung ragen. Am oberen Ende der Stöcke sind Figuren befestigt. Die Figuren werden von dem Licht des Feuers angestrahlt, weshalb sich an der davor liegenden Höhlenwand ein Schattenspiel abzeichnet. Vor dem Mauervorsprung sitzen gefesselte Menschen. Sie können die Akteure der Inszenierung hinter sich nicht wahrnehmen. In ihrer Wahrnehmung sind die Schatten der Dinge, die Dinge selbst. 

Der Beginn des Höhlengleichnisses indiziert, dass nichts, nur weil es wahrgenommen wird, auch deshalb wahr sein muss. Wer aber – so die Lehre Sokrates – die eigene Wahrnehmung hinterfragt und bereit ist – entgegen aller möglichen Fesseln – aufzubrechen und den Weg der Erkenntnis, hinaus aus der Höhle, zu gehen, kann mehrere Erkenntnisstufen später die absolute Wahrheit erkennen. Sie geht von der Sonne aus. 

Der Weg der Erkenntnis hat im Höhlengleichnis einen hierarchischen Verlauf. Doch was ist, wenn die Qualität von Erkenntnissen eher durch Vielfalt als durch Hierarchie zu bemessen ist? Steht der Erkenntnisreichtum einer blinden Person einer Sehenden hintenan? Bildet eine sehende Person dieselben Fähigkeiten auf anderen Sinneskanälen aus, wie eine blinde Person es tun würde?  Wie kann der Erkenntnisreichtum von Menschen hierarchisch geordnet werden – und wer käme mit seinen Erkenntnissen der Wahrheit näher? Platos Höhlengleichnis geht nicht auf die Vielfalt und Qualitäten ein, die innerhalb von Erkenntnissspektren liegen: Ein einziger Ausgangspunkt, eine „Art“ Mensch, ein einziger Weg, ein einziges Ziel, eine absolute Wahrheit.

So sehr das Höhlengleichnis ein Szenario aufspannt, welches aus der Metaperspektive den kognitiven Zusammenhang zwischen realer und Scheinwelt erleuchtet, so sehr verkürzt mag die Idee der absoluten Wahrheit sein.

Woher kann Plato wissen, ob das von ihm zu Ende gedachte Szenario nicht nur eine Skalierung dessen ist, was er als Ausgangsbild hernimmt? #Höhle in Höhle. Woher nimmt er die zweifelsfreie und damit göttliche Gewissheit, dass es hinter der Sonne, analog zum Feuer, nicht weiter geht? Diese und viele andere Fragen bleiben offen. 

Das Höhlengleichnis endet an einem gefährlichen Ort: Wo Fragen in vermeintlicher Erleuchtung verbrennen und der Glaube entsteht, der wie Wissen erzählt wird.